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Laudatio von İnci Dirim anlässlich der SOS-Preisverleihung

Univ.-Prof. Dr. İnci Dirim

Verleihung des „Ute Bock-Preises für Zivilcourage von SOS Mitmensch“ an „maiz/das kollektiv“

LAUDATIO

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Repräsentant_innen der Stadt Wien, sehr geehrte Mitglieder des Vereins SOS Mitmensch, sehr geehrte Gäste und, vor allem, sehr geehrte und liebe Kolleginnen* von maiz und dem kollektiv!


Bildung macht viel mit Menschen und gilt als hohes Gut. Bildung, im Sinne von institutioneller Bildung, findet dabei unter ganz bestimmten gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen statt und ist daher niemals neutral. Bestimmte Positionen werden von der herrschenden Politik gestützt, andere wiederum nicht und gerade staatliche Bildungsinstitutionen vermitteln durch die vorgegebenen Inhalte und die Art der Organisation der Bildungsmaßnahmen mit, welche Ansichten, Themen, Perspektiven und, damit verbunden, welche Ziele, Zugehörigkeiten und Identitäten die erwünschten sind und welche die unerwünschten, um es zunächst etwas zugespitzt zu formulieren. Wenn man sich genauer damit auseinandersetzt, was Bildung mit Menschen macht, kann man erkennen, dass es unter diesen Voraussetzungen von Politik- und Perspektivabhängigkeit nicht nur Gutes ist bzw. genauer: nicht für jede* und jeden* Gutes. Hinzu kommt, dass gesellschaftliche Diskurse in den Unterrichtsraum in komplexer, oft unkontrollierbarer Weise hineinwirken. Nicht umsonst spricht Jäckle vom Unterricht als „Ort von Diskursen“ (ders. 2009, S. 128). Dies gilt auch für die Erwachsenenbildung. In der Bildungswissenschaft setzt man sich schon lange mit Schule als zentraler Einrichtung auseinander, die die nationalstaatliche Identitätspolitik vermittelt und festigt (Gogolin 1994). Erwachsene können/dürfen als mündige Menschen nicht wie Kinder und Jugendliche „erzogen“ werden, aber auch die Erwachsenenbildung im Bereich „Migration und Bildung“ wird immer stärker zu einem Instrument von nationalstaatlicher Migrationspolitik.


Um diese komplexe Gemengelage von politischem und gesellschaftlich-diskursivem Einfluss wissen maiz und das kollektiv, die heute mit dem Ute Bock-Preis für Zivilcourage geehrt werden, sehr genau. Sie haben sich in der Landschaft der Erwachsenenbildung auf nahezu beispiellose Art und Weise mit der Verwobenheit von Bildung in Politik auseinandergesetzt, zu Migrations- und Bildungspolitiken Stellung bezogen und aus der Analyse klare Konsequenzen für ihre eigene Arbeit gezogen und zwar: sich gegen die herrschende, Migrant_innen vielfach ausgrenzende, abwertende und kriminalisierende, Migrationspolitik sowie gegen stärker werdende nationalistische Diskurse positioniert, was für sie nicht folgenlos geblieben ist. Maiz und das kollektiv haben durch alle Hindernisse und Widrigkeiten hindurch an einem macht- und gesellschaftskritischen Bildungsverständnis und einer ebensolchen -praxis gearbeitet. Sie haben diese diskutiert, verteidigt, umgesetzt und, so meine Prognose, werden dies auch weiterhin tun.


Es freut mich sehr, zu diesem schönen Anlass der Preisverleihung aus einer macht-, gesellschafts- und rassismuskritischen wissenschaftlichen Perspektive heraus die Arbeit von maiz und dem kollektiv würdigen zu können! Dabei stelle ich den Bereich „Migration und Bildung“ in den Vordergrund, in dem die Arbeit von maiz und dem kollektiv meines Wissens nicht nur, aber hauptsächlich verortet ist. Die Arbeit von maiz und dem kollektiv kann ich nur ansatzweise besprechen, denn sie ist breit gefächert und es würde den Rahmen dieser Laudatio sprengen, würde ich auf das gesamte Schaffen der Kolleginnen* eingehen.


Ich möchte die eingangs erwähnte Problemlage noch ein wenig vertiefen und einige zentrale Aspekte der Arbeit und der Arbeitsweise von maiz markieren, um schließlich auf die Feststellung zurückzukommen, dass Bildung nicht neutral ist und Bildungsangebote nicht nur der Wissensvermittlung über Sachverhalte dienen. Bildungsangebote müssen in einem nationalstaatlichen Rahmen politischen und bildungspolitischen Bestimmungen entsprechen und sich dem Wandel der Politik anpassen. So werden sie zu „Bildungsmaßnahmen“. Dies gilt zunehmend auch für die Erwachsenenbildung, die als Regulierungsinstanz für Migrations- und, wie es der Kollege Dr. Michael Dobstadt von der Technischen Universität Dresden am vergangenen Freitag im Rahmen der Jahrestagung des Österreichischen Verbands für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache formuliert hat, zu Maßnahmen der Sicherheitspolitik. Ich würde ergänzen: zum Bestandteil des Grenzregimes.


Lernende in staatlich geförderten Deutsch- und Integrationskursen begegnen beispielsweise im Unterricht Bildern und Texten, denen sie entnehmen, wie Migrant_innen dargestellt sind und wie Menschen dargestellt werden, die als „Einheimische“ gelten. Die Unterrichtsmaterialien
vermitteln nicht nur Deutschkenntnisse, sondern enthalten Botschaften, die manchmal offen, manchmal auch subtil zeigen, welche Vorstellungen es von einem legitimen Dasein in der Gesellschaft gibt und welcher Platz den Lernenden darin eingeräumt wird. Früher sprach man in pädagogischen Kontexten öfter auch von „heimlichen Botschaften“, die den Zeilen, Bildern, Lehrplänen innewohnen. Aber es sind nicht nur heimliche, symbolische Botschaften, die auf die eine oder andere Art und Weise wirksam werden, sondern auch offen vorgetragene politische Ziele, denen die Kurse zuarbeiten müssen. Gerade im Bereich „Migration und Bildung“ sind Bildungsangebote heute mehr denn je in politische Zielsetzungen eingebunden. Das prägnanteste Beispiel dafür stellt die Verknüpfung von Bleiberecht für Drittstaatangehörige an den Deutschlernerfolg dar. Das heißt, dass der Besuch bestimmter Deutschkurse, Prüfungen und Zertifizierungen des Deutschlernerfolgs, inklusive der vermittelten sozialen sowie politischen Inhalte entscheidend dafür sind, ob Menschen aus sogenannten „Drittstaaten“ (nicht nur) in Österreich bleiben dürfen oder das Land wieder verlassen müssen. Die offizielle Migrationspolitik lässt damit Bildung zu einem Instrument der Regulierung von Migration werden. Wie sich die politische Lage für Migrant_innen und damit auch Bildungsangebote für sie entwickeln werden, hängt auch davon ab, wie das gesellschaftliche Ringen um Deutungshoheit ausgefochten und jeweils entschieden werden wird. Wir sind auch ohne Schusswaffen mitten in einem diskursiv ausgetragenen und politisch manifestierten Kampf. Die gegenwärtige gesellschaftlich-politische Lage in Europa ist dabei in einem hohen Maße vom Erstarken nationalistischer und repressiver Strömungen gekennzeichnet, die Migration als Bedrohung und Migrant_innen als „Risiko“ für das Wohl der Mehrheitsbevölkerung darstellen. Ein Bildungsverständnis wie das von maiz und dem kollektiv, das partizipativ ausgerichtet ist, das emanzipativ ausgerichtet ist, das Lernen als Prozess versteht und die Rolle der Sprache darin als beständigen Versuch der gegenseitigen Verständigung. Sprache als hybrides, sich wandelndes, letztlich nicht festhaltbares Gebilde und nicht als stabilen Block, der von den Lernenden übernommen wird, hat es unter diesen Rahmenbedingungen nicht leicht.


Eine sehr verbreitete Haltung, die unter diesen Bedingungen in den Erwachsenenbildungseinrichtungen eingenommen wird, ist die, dass man sich der Politik beugen muss, dass es nicht anders geht, möchte man die Finanzierung für die Maßnahmen bekommen, Migrant_innen unterstützen und auch den eigenen Arbeitsplatz sichern. Genau das
ist es, nämlich das Akzeptieren der Vorgaben, das an repressive Politiken gebunden ist, was maiz und das kollektiv aber nicht tun – und zwar koste es, was es wolle!


Wie gehen maiz und das kollektiv vor? Sie beobachten die gesellschaftlich-politischen Entwicklungen sehr genau und analysieren sie mit wissenschaftlichen Instrumentarien der kritischen Wissenschaft, u.a. der Cultural Studies, in denen es darum geht, Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzudecken. Maiz und das kollektiv argumentieren mit kritischen internationalen Wissenschaftlerinnen* wie Butler und Spivak, aber auch aus dem deutschsprachigen bildungswissenschaftlichen Diskurs heraus, viel mit den Arbeiten Mecherils, der ein großes analytisches Wissen um Subjekt- und Zugehörigkeitsverhältnisse im Rahmen von „Migration und Bildung“ entwickelt hat und zu den Mitbegründer_innen der rassismuskritischen Perspektive gehört (u.a. Mecheril & Melter 2010). Eine der Besonderheiten dieser Perspektive ist, dass Rassismus nicht als Fehlverhalten einzelner Subjekte und bestimmter Gruppen betrachtet wird, sondern als gesellschaftliches Verhältnis. Daraus erwächst die Notwendigkeit einer beständigen Selbstreflexion von Pädagog_innen. Maiz und das kollektiv analysieren nicht nur die Politik und die dominanten Diskurse, sie arbeiten auch immer an sich, reflektieren ihren eigenen Sprachgebrauch, entwickeln ihn und ihre Praxis im Sinne einer rassismuskritischen, selbstreflexiven Bildungspraxis weiter.


Die Kolleginnen* von maiz und dem kollektiv gehen mit der Bildungssituation von Migrantinnen* also nicht etwa intuitiv oder aus einem beruflichen Alltagswissen heraus um. Sie gehen mit einem großen theoretischen Wissen vor, gestützt durch eigene Forschungsprojekte. Ja, sie sind Praktikerinnen*, aber auch Wissenschaftlerinnen*. Das kann doch nichts anderes sein als die berühmte „Quadratur des Kreises“: inmitten der pädagogischen Arbeit und des Kampfes um das finanzielle Überleben wird gelesen, diskutiert, es werden Projekte durchgeführt und Konsequenzen für die eigene pädagogische Arbeit gezogen. Nicht nur das: das macht- und gesellschaftskritische reflexive Wissen wird mit Publikationen, Projekten und Fortbildungsangeboten an andere weitergegeben.
Um sozusagen den Antrieb der Arbeit von maiz und dem kollektiv auf den Punkt zu bringen, könnte eine berühmte Frage von Foucault herangezogen werden, die er eindringlich und auf unterschiedliche Weise formuliert hat (u.a. in Foucault 1992): „Wie kann es gelingen, nicht dermaßen regiert zu werden?“ Wie kann es, wenn ich die Frage weiter auf die Erwachsenenbildungsarbeit in der Gegenwart spezifiziere, gelingen, Migrantinnen* ausgrenzenden, Andersheit ablehnenden, nationalistischen, auf koloniale Denkstrukturen zurückgreifenden gesellschaftlich-politischen Strömungen standzuhalten und diesen etwas Anderes entgegenzusetzen? Diese Fragen setzen maiz und das kollektiv ins Zentrum ihrer Bemühungen und erarbeiten didaktisch-methodische sowie pädagogische Vorgehensweisen, die von dem Ziel getragen werden, marginalisierte Subjekte so zu unterstützen, dass sie würdevoll und selbstbestimmt durchs Leben gehen können. maiz und das kollektiv gehen für dieses Ziel jedes Risiko ein, auch das, den eigenen Arbeitsplatz und damit die Grundlage für das eigene selbstbestimmte Arbeiten und Leben zu verlieren. Dafür haben sie den Ute Bock-Preis für Zivilcourage verdient. Ich hoffe, dass maiz und das kollektiv weiterhin durchhalten werden und schaue auch als Wissenschaftlerin voller Hoffnung in die Zukunft, weiterhin von den Kolleginnen* lernen zu können, wie unter widrigen Rahmenbedingungen kritische Bildungsarbeit möglich wird.


Vielen Dank!

Zitierte Literatur:

Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin (Merve)

Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster (Waxmann)

Jäckle, Monika (2009): Schule M(m)acht Geschlechter. Eine Auseinandersetzung mit Schule und Geschlecht unter diskurstheoretischer Perspektive. Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften)

Mecheril, Paus / Melter, Claus (2010): Gewöhnliche Unterscheidungen. Wege aus dem Rassismus. In: Mecheril, P./Castro Varela, M. /Dirim, İ. / Kalpaka, A./Melter, C.: Migrationspädagogik. Weinheim, Basel (Beltz), S. 150-178.

Bild: SOS Mitmensch