Direkt zum Inhalt
x

Wir sprechen in Schmerzen und Wut. Eine Rede zum ersten Mai

Erster Mai, 2020, in Linz, in der Welt, hier, in dieser Welt unter dem Himmel des globalen Nordens. Diese Welt der Kolonisatoren, Imperialisten, neoliberalen Mörder, Faschisten, Frauenmörder, Rassisten, Transmörder, Sexisten, Homophoben, Ausbeuter seit jeher, alle hier wie im Karneval der Gutmutigkeit, alle hier versammelt, wollen uns beibringen, sie sorgen für uns, für unsere Gefährdetsten unter den Gefährdeten. Warum wohl? Wenn doch einer der Wägen ihres grotesken Umzugs ein Lager in Lesbos ist, 20.000 Tausende Menschen in einem abgesperrten Raum, der für 3.000 Menschen eingerichtet wurde.

So sehr die Wörter sich verweigern und oft stecken bleiben wollen, schreien wir sie raus, auch im leisen kaum hörbaren Seufzen. Wir schreien sie heraus in lauten Wörtern heute am ersten Mai, heute und ewig.
Und wir sprechen sie raus.

Wir sprechen sie in Schmerzen und Wut raus.
Wir sprechen als Frauen, als queer, als  Migrantinnen, als geflüchtete Frauen, die sich weigern, als Herde bezeichnet und behandelt zu werden. Die sich weigern als manipulierbare Masse, ohne transparente Informationen Entscheidungen mittragen zu müssen und mundtot gemacht zu werden.

Und so sprechen wir in Schmerzen und Wut Wörter raus.
Denn Krisen und Kämpfe kennen wir, gerade aber werden Gewalt, Machtmissbrauch, Ungerechtigkeiten und mörderische Ungleichheiten wie durch ein Vergrößerungsglas allen sichtbar. Bedrohende günstige Zeit bescheren wir uns.

Und so sprechen wir in Schmerzen und Wut.
Und so vereinen wir uns mit denjenigen, die im Kampf sind,

für die Rechte der Asylwerberinnen, die vom österreichischen Staat täglich, strukturell und systematisch schikaniert werden, die an der Grenze gewaltvoll und in Missachtung der Genfer Konvention zurückgewiesen werden und keinen Asylantrag stellen dürfen,

für die Rechte der Menschen in Flüchtlingslagern, deren Behandlung wieder einmal die Monstrosität der neoliberalen kapitalistischen europäischen Staaten in skandalöser Selbstverständlichkeit darstellt.

Und so sprechen wir in Schmerzen und Wut. Und so vereinen wir uns mit denjenigen, die trotz und gerade wegen dieser Krise im Kampf sind,

für die Rechte der undokumentierten Arbeiter_innen,

für die Rechte der Arbeiter_innen in der Pflege, in der Landwirtschaft, in der Sexarbeit, in der Erwachsenenbildung und in vielen anderen Bereichen, die substanziell für die so genannte Normalität der österreichischen Gesellschaft waren und sind, die schon vor der Krise prekär beschäftigt waren und jetzt um so härter von ihren Auswirkungen betroffen werden.

Wir sprechen in Schmerzen und Wut laut und lauter: Wir wollen nicht zurück zur Normalität! Weder zu eurer neuen noch zur alten Normalität. Wir verweigern uns der Normalität überhaupt und bekämpfen die Politiken der Prekarität, der sozialen Kürzungen und des zerstörerischen Wachstums der letzten Jahrzehnte.

Wir sprechen in Schmerzen und Wut laut und lauter raus,

dass wir gemeinsam wirtschaften wollen, um die Gesundheit aller zu erhalten und ein menschenwürdiges Leben für alle zu gewährleisten,

dass die in der aktuellen Krise geplanten Hilfsmaßnahmen vorübergehend, fragmentarisch, unzureichend und bürokratisch sind und dass wir einfache und weniger bürokratische Maßnahmen brauchen, dass wir ein unbedingtes und universelles Grundeinkommen brauchen und wollen.

Wir sprechen in Schmerzen und Wut,
dass wir für die Wahrung der Freiheiten und der digitalen Privatsphäre weiterkämpfen werden,

dass es Zeit für eine Pädagogik der und in der Krise ist. Dass Bildung nicht zur gewaltvollen Normalität zurückführen soll. Dass Bildung die Normalität skandalisieren soll. Gerade, gerade jetzt. Dass die Bildungsarbeit in allen Einrichtungen, vom Kindergarten bis zur Uni nicht zum gewöhnlichen Alltag zurückkommen soll. Dass es jetzt um radikale Fragen geht, dass alle das Recht haben, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen: Was passiert mit uns? Was sind die Ursachen? Welche Kämpfe werden sichtbar? Was können wir tun? Wer sind wir, wenn wir von uns sprechen? Wer sind die Anderen? Welche Kämpfe sind notwendig? Und wie bauen wir von hier aus Horizonte der Würde, der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Freiheit?

Wir sprechen in Schmerzen und Wut laut und lauter,
dass wir weiter und weiter gemeinsam widerstehen und kämpfen werden, bis sie, die uns als ausbeutbare und manipulierbare Herde behandeln wollen, über uns stolpern und von uns überrumpelt werden.

Es lebe der 1. Mai,
es lebe der Widerstand, es lebe der Kampf um ein anderes besseres Leben auf diesem Planeten für alle jetzt, jetzt alles für alle!

Rubia Salgado, das kollektiv, Linz, 1. Mai 2020